Sonntag, 23. Dezember 2012

Kein Bock auf Amok: Die Antwort auf Newtown

Selbst schuld, die Opfer des Amoklaufs in Newtown. Völlig hilflos ausgeliefert waren die Schüler und Lehrer dem Attentäter; wie das Kaninchen vor der Schlange. Der Grund: Niemand, aber wirklich niemand der Schüler und Lehrer war mit einer Schusswaffe ausgestattet!
Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Was für eine haarsträubende Fahrlässigkeit, an Naivität und Realitätsferne kaum zu überbieten. Lehrer und Schüler haben mit ihrem Verhalten geradezu um einen solchen Anschlag gebettelt.
Wie gut, dass nun wenigstens die US-Waffenlobby diese unhaltbaren Zustände erkannt hat und mehr statt weniger Waffen als Konsequenz auf den Amoklauf fordert. Richtig so!
Diese Idee kann aber nur den Anfang eines Maßnahmenkatalogs bilden, um das Schulpersonal und die Schüler zukünftig für ähnliche Vergeltungsschläge besser vorzubereiten.
Aus dem Weißen Haus sickern bereits Gerüchte durch, dass ab sofort an allen amerikanischen Schulen Schulsport durch Schießsport ersetzt wird. Dieser steht dreimal wöchentlich auf dem Stundenplan. Die Gewehre und Pistolen hierfür werden vom Bildungsministerium an die Schüler und Lehrer verschenkt. Der Haushalt wird dadurch nicht belastet: Die zusätzlichen Ausgaben werden durch eingesparte Transferleistungen kompensiert, die der Staat für die bei den täglichen Schießereien ums Leben gekommenen Bürger einspart. Das Waffenbesitzalter wird in einem Eilgesetz auf drei Jahre herabgesenkt, damit schon Windelpupser bei entsprechenden Anschlägen in Kindergärten für den Umgang mit dem Schießeisen gerüstet sind.
Sachkunde-Unterricht wird zugunsten von Waffenkunde abgeschafft, damit die Schüler das nötige theoretische Wissen über ihre Gewehre und Pistolen erfahren. Im Geschichtsunterricht erhalten die Kinder militärische Taktikschulungen von Afghanistan- und Irak-Veteranen. Diese sollen den Schülern ihre Erfahrungen von Straßenschlachten und Gebäudestürmungen für einen potentiellen Feldzug gegen einen Amokläufer verinnerlichen. Koordiniert werden diese Übungseinheiten vom kürzlich zurückgetretenen CIA-Chef David Petraeus, der zuvor Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte in Irak war.
In diesen Stunden werden zur besseren Veranschaulichung Amokläufe an Schulen und in öffentlichen Einrichtungen der Vergangenheit besprochen und detailliert ausgeleuchtet. So sollen Schwachstellen bei der Verteidigung der Schul-Bastion offengelegt werden, um Eindringlinge künftig innerhalb von zehn Sekunden nach Betreten des Schulgebäudes zu liquidieren.
Täglich in den Informatik-Unterricht integriert werden nun Ego-Shooter-Computerspiele, wie Counter-Strike oder Grand Theft Auto (GTA). Alternativ gestattet ist das Zeigen von Horrorfilmen oder Kriegsdramen, etwa Der Soldat James Ryan. Dadurch soll eine Herabsetzung der Empathie-Fähigkeit bei den Schülern erreicht werden. Gleichzeitig soll die Treffsicherheit beim Schießen optimiert werden, um eine möglichst hohe Eliminationsquote von Gegnern zu erreichen. Nicht zuletzt wird durch solche gemeinsamen Aktionen das Kameradschaftsgefühl der Schüler untereinander gestärkt sowie die Schaffung eines gemeinsamen Feindbildes erreicht.
Doch damit nicht genug: Um den Unterricht möglichst wenig durch störende Einflüsse – zu denen Amokläufer demnächst hinzugefügt werden sollen - zu beeinträchtigen, sollen austrainierte Sicherheitskräfte an Schulen eingesetzt werden.
Ihre Aufgabe ist es, verdächtig erscheinende Personen auf dem Schulgelände nach einmaligem Warnruf zu liquidieren. Agieren statt Reagieren heißt die Devise.
Finanzielle Mittel für die Ausbildung dieser Fachleute sind nicht vonnöten: Geplant sei, dass Vietnam-Veteranen sowie aus dem Gefängnis entlassene Heckenschützen und Gewaltverbrecher diese Jobs übernehmen.
Denkbar sei auch, dass arbeitslose Hobbyjäger als Sicherheitskräfte anheuern. Sie benötigen einerseits keine weitere Einweisung für ihren Dienst und andererseits unternimmt der Staat auf diese Weise wichtige Schritte zur Reintegration von Häftlingen.
Zudem schafft der Staat so gerade in dieser konjunkturell angespannten Lage weitere Arbeitsplätze und kurbelt die Wirtschaft an – auch in der Waffenindustrie. Friede, Freude, Eierkuchen also. Genial, oder?
Einzig um die Journalisten-Zunft muss sich der Staat sorgen: Sensationsträchtige Amoklauf-Storys dürften in der Zukunft dank der Maßnahmen wegfallen, sodass Massenentlassungen in den Redaktionen drohen. Wir dürfen gespannt sein, mit welchen unbürokratischen Maßnahmen der erfinderische Staat diesem Problem begegnen will.
 

Mittwoch, 19. Dezember 2012

Pizza-Perversion

80 Millionen - so viele Tonnen Lebensmittel werden jährlich in Deutschland vernichtet. Und die meisten davon sind noch genießbar. „Das kann es doch nicht sein“, hat sich bei Bekanntwerden der Zahlen unsere Beauftragte für Lebensmittelvernichtung, Ilse Aigner, pikiert.
Zurecht: Die Fläche, die für den riesigen Müllberg verwendet wird, könnte man auch sinnvoller verwenden. Etwa, um Atommüll zu endlagern.
Aber wohin nun mit den 80 Millionen Tonnen Lebensmitteln? Die Lösung ist ganz einfach: In die hungrigen Mäuler; packen wir den Biomüll doch einfach auf die Pizza!
Das ist doch eine fantastische Idee: So werden die Lebensmittel recycelt und dem Futterkreislauf gleich wieder zugeführt.
Was will man mehr? Gewisse Einschränkungen muss man dabei eben einfach in Kauf nehmen.

Klassische Pizza Prosciutto? Ade!
Stattdessen wabert dem Konsument ein Cocktail betörender Düfte unbekannter Gewürze entgegen. Von schrumpligen, überpfefferten Bratkartoffeln, die tiefere Falten aufweisen als das Gesäß einer 95-Jährigen. Zusammengefallener Rotkohl, der schlaffer wirkt als das beste Stück eines senilen Gebissträgers bei einer Erektion. Und zähschmelzender Instant-Käse, der so elastisch ist, dass man ihn sich sorglos für einen Bungeesprung von der Golden Gate Bridge um die Beine hätte binden können.

Und das beste: Künstliche Aromen sind jetzt völlig überflüssig. Dafür sorgt schon die fingerdicke Wurst im Pizza-Rand, in deren Haut das bei der Fleischerei übrig gebliebene Schweinemett mit extra viel Zwiebeln von vorgestern hineingepresst wurde.
Mit solchen innovativen Pizza-Kreationen scheint eine klaffende Marktlücke geschlossen worden zu sein. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht von den Sterneköchen in deutschen Imbissbuden eine neue Sorte kredenzt worden wäre. Meistens geht das ganz einfach: Ein kurzer Blick in den Kühl- und den Vorratsschrank genügt, um panisch festzustellen, welche Lebensmittel gerade anfangen streng zu riechen oder eine flauschig-weiße Schicht bilden. Dann ist es allerhöchste Eisenbahn, sie schnell noch auf einer Pizza unterzubringen. Im Backofen sterben ja zum Glück alle Bakterienkulturen ab. Und voilà: So schnell hebt man eine neue Sorte aus der Taufe.

In solchen Momenten ärgere ich mich fürchterlich, dass ich früher nicht auf meine Eltern gehört habe („Sieh' zu, dass du was Vernünftiges lernst“). Getreu dem Motto „Besser spät als nie“ habe ich mich dann kürzlich doch als Pizza-Bäcker versucht.
Meine erste Kreation, die Pommes-Pizza „Rot-Weiß“ fand spontan keinen großen Anklang. Vielleicht sollte ich mich erstmal auf saisonale Produkte spezialisieren.
Wie wäre es mit einer schönen Grünkohl-Pizza, wahlweise mit Senf- oder Meerrettich-Grundlage für den Boden, garniert mit einem ordentlichen Stück Schinkenspeck und einer herzhaften Bregenwurst. Der fetten groben, versteht sich.

Ein bisschen Bammel habe ich bloß vor dem Sommer. Für die wärmere Jahreszeit schweben mir eine „Pizzamisu“ mit einer Basis-Schicht Kaffee und amarettogebadeten Löffelbiskuits, überbacken mit einer cremigen Mascarpone-Masse vor.
Oder eine Spaghetti-Eis-Pizza mit einer extra Portion gefrorener Sahne. Einziges Manko: Das Eis fängt schon bei geringen Gradzahlen ziemlich schnell an zu schmilzen und hat mir den ganzen Ofen vollgetropft.
Wenn also jemand unter euch weilt, der eine Idee hat, wie ich den Schmelzpunkt der Eiscreme heraufheben kann, ohne dass dies zu geschmacklichen Einschränkungen bei der Pizza führt, kann er sich gern bei mir melden. Selbstverständlich dürft ihr bei Gelingen auch gern ein Stück davon probieren. In diesem Sinne: guten Appetit!

Sonntag, 16. Dezember 2012

Fremdwort Pressefreiheit

Was ist der Beruf des Journalisten nicht toll: Er arbeitet unabhängig und überparteilich, macht sich mit keiner Sache gemein - auch wenn sie noch so gut ist. Kurzum, der Journalist berichtet mit gebotener Distanz zum Geschehen. Zumindest in der Theorie.
In der Praxis sieht das häufig anders aus: Einige Bürger wollen diese Grundsätze einfach nicht akzeptieren. Für sie sind (Lokal-)Journalisten bloß Sprachrohr der eigenen Interessen.

Wie ein wildgewordener Hühnerhaufen


Es ist Mittwochmorgen. Beim obligatorischen Dauerlauf gehe ich meinen Arbeitstag schonmal im Kopf durch: Ein Termin am Vormittag, ansonsten Artikel von selbstrecherchierten Themen fertigstellen. Eigentlich nichts Spektakuläres - eigentlich. Tatsächlich kommt natürlich alles anders.

Ich fühle mich wie im falschen Film: Um mich herum steht ein halbes Dutzend Frauen und redet wild auf mich ein. Völlig durcheinander. Sie springen umher wie aufgescheuchte Hühner. Ich weiß gar nicht wie mir geschieht.
„So geht das nicht! Ich kenne Ihren Chef, der ist mein Nachbar. Ich werde mich bei ihm über Sie beschweren“, schimpft eine der Damen. Das tut sie dann auch. Aber warum?

Verkehrte Welt


Die Damen (und ein weiterer Herr) sind Vertreter verschiedener lokaler Behörden, Vereine und Organisationen, die zusammen einen Info-Stand für einen Aktionstag gegen Gewalt betreuen. Und ich bin der lokale Presse-Fuzzi, der über sie berichten soll. Schönes Foto und ein paar Zeilen Text sollen es werden.
Für Ersteres bitte ich ein oder zwei Damen, mir als „Modell“ zur Verfügung zu stehen. Die zieren sich aber. „Nein, so geht das nicht. Wenn schon, dann müssen wir alle auf das Foto.“ Unaufgefordert stellen sie sich sogleich alle nebeneinander zu einem klassischen Gruppenfoto auf. Na super...
Höflich und einfühlsam versuche ich, der Gruppe deutlich zu machen, dass ich ein GUTES Foto machen will. Und nicht eines nach ihren Vorstellungen. „Es ist ihr Job, für diese Aktion zu werben und mein Job, darüber zu informieren. Und damit möglichst viele Leute den Artikel lesen, sollte das Foto auch gut sein.“ Null Reaktion. Ich rede wie gegen eine Wand.
Das Ende vom Lied: Ich mache das Foto nach den Vorstellungen der Gruppe, aber zusätzlich noch ein weiteres Bild, so wie ich es für gut halte. Und wenig später darf ich mein Handeln vor meinem Chef rechtfertigen. Na super...

Presse-Fuzzis als bloße Interessen-Handlanger


Im Grunde ist es ja nichts Neues: Da wollen sich die Protagonisten eines Artikels mal wieder in die Form der journalistischen Umsetzung einmischen. Und die Berichterstattung in eine von ihnen gewünschte Richtung lenken.
Über das ihnen zustehende Maß versteht sich. Als ich so das in der Redaktion erzähle, zucken die Kollegen mit den Schultern antworten mir: „Ist doch normal, passiert uns regelmäßig.“ Und genau da sitzt der Stachel: Das darf nicht sein!

Der CSU-Pressesprecher Hans-Michael Strepp musste Ende Oktober zurücktreten, weil er angeblich die ZDF-Berichterstattung zensieren wollte. Darüber empört sich die ganze Republik.
Und wenn so etwas regelmäßig in den Lokalredaktionen passiert, pikieren sich nicht mal mehr die Redakteure darüber. Soweit ist es also schon gekommen.

„Streppen“ - kein neues Phänomen


Obwohl ich erst am Anfang meines Berufslebens stehe, kenne ich solche Zwischenfälle zur Genüge. Ob es der Feuerwehrmann, die Hausfrau oder der Elektrotechniker ist – sie alle hätten gern den jeweiligen Artikel vor der Veröffentlichung gern nochmal gegengelesen, „um inhaltliche Fehler gegebenfalls zu beseitigen.“ Böse Zungen würden behaupten, um den Artikel zu zensieren. Ihn nach den eigenen Vorstellungen und Intentionen zu ändern.

Natürlich stoßen sie alle bei uns auf taube Ohren mit diesem Wunsch. Natürlich ist auch nur ein Bruchteil der Bürger so dreist, uns um eine Autorisierung zu bitten. Natürlich ist leider auch, dass genügend Personen uns Pressevertreter als bloße Handlanger ihrer Interessen verstehen. Als Sprachrohr für ihr persönliches Anliegen. Aber wehe, wenn wir diesen Vorstellungen mit unserer Berichterstattungen nicht entsprechen. Dann kann es schnell so enden, wie im obigen Beispiel. Das hat auch etwas Gutes für sich: So kann jeder Arbeitstag spektakulär werden.

Donnerstag, 13. Dezember 2012

Winnetou-Mania

Keine Frage, das Jahr 2012 steht ganz im Zeichen von Karl May: In diesem Jahr wäre der Autor 170 Jahre alt geworden. Seit Todestag liegt 100 Jahre zurück. Und praktisch auf den Tag genau vor 50 Jahren, am 12. Dezember 1962, wurde der erste der seinerzeit beispiellos erfolgreichen Karl-May-Verfilmungen uraufgeführt („Der Schatz im Silbersee“). 


Legenden sterben nie


Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie der Mensch sich selbst überraschen kann. Das kann bei sportlichen Höchstleistungen passieren, wenn ein Athlet über sich hinauswächst und ungeahnte Leistungen erbringt.
Oder er schaut einfach mal ins Fernsehprogramm. Das genügte in meinem Fall bereits.
Da sitze ich in meinem Zimmer und freue mich wie ein kleines Kind, das gerade sein erstes Fahrrad geschenkt bekommen hat. Warum? Weil ich kurz zuvor in der TV-Zeitschrift entdeckt hatte, dass einige Tage darauf gleich vier Winnetou-Filme nacheinander im Fernsehen ausgestrahlt werden. Ja, richtig gelesen.
Genau die alten Kamellen aus den 60er Jahren mit Pierre Brice als Apachen-Häuptling und Lex Barker als sein Blutsbruder Old Shatterhand. Genau die sind es, die mein Herz höher schlagen lassen. Obwohl sie schon zigfach im Fernsehen liefen und ich jeden einzelnen schon etliche Male gesehen habe.
Das tut meiner Begeisterung keinen Abbruch. Nicht mal ansatzweise. Und genau das überrascht mich in diesem Moment so.
Noch mehr überrascht mich, dass sich zahlreiche Gleichaltrige ebenfalls für die Leinwandhelden aus dem letzten Jahrhundert begeistern lassen.

Der Einsatz für das Gute


Woher rührt diese Faszination? Wieso lösen die verfilmten Werke Karl Mays eine solche Anziehungskraft aus?
Antworten auf diese Fragen zu finden, ist verdammt schwer. Jedenfalls für mich. Also für einen, der sich nicht hauptberuflich der Winnetou-Forschung widmet.
Dennoch lassen sich mögliche Ansätze finden: Wer verbindet Winnetou und Old Shatterhand nicht mit der Hoffnung an eine bessere Welt?
Eine Welt, in der das Gerechte über das Böse siegt. Zugegeben, das trieft nur so vor Schwülstigkeit. Und doch ist ein wahrer Kern dran. Die beiden prägten Werte, die auch heute noch Gültigkeit besitzen: Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Fairness, Gerechtigkeit.
Nicht zuletzt deshalb tauche ich all zu gern in die Welt der beiden ein, sehe mir ein Abenteuer mit den Blutsbrüdern an und lasse für rund anderthalb Stunden den Alltag hinter mir. Die Filme üben eine gewisse meditative Wirkung auf mich aus: Nach einem Winnetou-Film fühle ich mich so entspannt und gelöst wie sonst nur nach einem fünfgängigen Saunabesuch.

Entspannend wie Sauna


Kein Wunder also, dass für mich in Winnetou III eine Welt zusammenbrach. Als ich den Film das erste Mal sah, kullerten die Tränen - wie bei so vielen anderen auch. Ich war wie traumatisiert von Winnetous Tod.
Es fühlte sich an, als fiebert man mit großer Vorfreude einem Sauna-Besuch entgegen und dann kommt statt der wohligen Wärme das Eiswasserbecken.
Aber an solche Horror-Szenarien verschwendete mein Hirn beim Studium des Fernsehprogramms keinen Gedanken. Im Gegenteil: Es ahnte, dass es demnächst mal wieder Streicheleinheiten für die Seele geben würde.
Zurecht: Bis auf eine Ausnahme habe ich an jenem Tag keinen der Winnetou-Filme verpasst. Und nach dem letzten saß ich mit einem Dauergrinsen total glückbeseelt auf dem Sofa. Das überraschte mich dann überhaupt nicht mehr.

Dienstag, 11. Dezember 2012

Eine Bahnfahrt, die ist lustig...

Eines muss man der Deutschen Bahn lassen - mit ihr wird es nie langweilig. Bahnfahren ist schließlich wie Lottospielen: Man kauft sich ein Los (hier: eine Fahrkarte), lässt sich überraschen, was als Ergebnis herausspringt und mit ganz viel Glück zieht man den Hauptgewinn. Das heißt in diesem Fall: Die Zugfahrt geht reibungslos und ohne Vorkommnisse vonstatten. Oder aber die Zwischenfälle nehmen dermaßen skurrile Züge an, dass man ein Abenteuer durchlebt, wovon man noch seinen Enkelkindern erzählen wird. Insofern habe ich am Wochenende sechs Richtige plus Superzahl gezogen - Jackpot, Baby!


Der Arsch der Welt


Rzepin ist ein Ort der Kategorie „da wohnt man nicht, da fährt man durch“. Rund 6500 Einwohner leben dort. Totale Dorfidylle im westlichen Polen. Keine 20 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt.
Zugegeben, bis vor wenigen Tagen wusste ich nicht mal, dass der Ort existiert. Und normalerweise wüsste ich es heute immer noch nicht. Normalerweise...
Das Wochenende mit meinem Volo-Kumpel Michael (by the way: der Beinahe-Priester) in Warschau war saugeil. Nun sitzen wir im Warschau-Berlin-Express auf dem Weg nach Frankfurt (Oder). „In 'ner Viertelstunde sind wir da“, sagt Michael. Von wegen. Es sollte der größte Irrtum des Tages werden.
Wir halten gerade planmäßig im Bahnhof von Rzepin. Da meldet sich der polnische Lokführer mit leiser Stimme zu Wort: „Aufgrund eines Unfalls haben wir hier einen Aufenthalt von zwei Stunden“, sagt er sinngemäß. ZWEI Stunden???
Warten im Zug ist öde. Da sind Michael und ich uns schnell einig. Also beschließen wir, mit einem Taxi weiter nach Frankfurt zu fahren, um den Anschlusszug zu erwischen.
Doch nix da: Es fährt kein Taxi. Warum? Die Straßenverhältnisse sind zu prekär.
In Rzepin herrscht Russenkälte: Minusgrade und geschätzte 20 Zentimenter Schnee. Räumfahrzeuge sind Fehlanzeige. Der Straßenverlauf lässt sich bloß durch die Straßenlaternen erahnen.

Der Vettel unter den Busfahrern


Dann naht unsere Rettung: Ein Linienbus, Marke Vorkriegsmodell. Aber wir haben keine Wahl. Also nix wie rein in den Bus in Richtung Slubice. Blöderweise sind wir nicht die einzigen, die auf diese Idee kamen. Und so ist der Bus vollgestopft bis zum letzten Quadratzentimeter.
Allein fünf Personen quetschen sich vorn beim Fahrer. Der kann froh sein, dass er überhaupt noch was von der Straße einsehen kann. Seinem Fahrstil merkt man das nicht an: Eine Hand am Lenkrad, mit der anderen ein Tuch haltend, mit der er die sich ständig beschlagene Frontscheibe wischt, brettert der Busfahrer mit 80 Sachen über die schneebedeckten Landstraßen. Der Mann hat es eilig. Vor ihm „kriecht“ ein Auto auf der Straße. Kurze Lichthupe, dann donnert der Bus am Auto vorbei. Kurz darauf nochmal. Der Typ scheint echt die Ruhe wegzuhaben.
Eine halbe Stunde später sind wir in Slubice. Auch dort fahren keine Taxis. Stichwort Russenkälte.
Also gehen Michael und ich gemeinsam mit knapp einem Dutzend weiterer Busgäste zu Fuß zum Bahnhof nach Frankfurt (Oder). „Das sind bloß 700 Meter“, sagt eine Frau. „Ich kenne mich hier bestens aus.“ Wenig später steht fest: Diese Meinung hat sie exklusiv für sich. Aus 700 Metern wurden fast fünf Kilometer. Knapp daneben ist eben auch vorbei...
Völlig abgekämpft erreichen wir irgendwann tatsächlich den Bahnhof. Ich freue mich wie ein Honigkuchenpferd. Endlich ins Warme und Trockene.


Pleiten, Pech und Pannen


Vor Ort erfahren wir, dass unser Warschau-Berlin-Express immer noch in Rzepin steht. Der Grund: „Personenschaden auf der Strecke“. Doch ein Unglück kommt selten allein. Auf Strecke nach Berlin gibt es auch einen „Personenschaden.“ Na, wunderbar! In letzter Sekunde kann dieser aber beseitigt werden und wir fahren nach Berlin. Planmäßig! Das soll schon was heißen. Es geschehen noch Zeiten und Wunder, denke ich. Denn wir bekommen gerade noch so unseren Anschlusszug, einen ICE nach Hamburg. Aber auch nur, weil der Verspätung hat. Typisch Bahn eben.

Dann der nächste Schlag: „Das Betriebssystem muss aufgrund von Problemen neu gestartet werden. Daher verzögert sich die Abfahrt um einige Minuten“ flötet eine Zugbegleiterin durch das Mikrofon. Zehn Minuten später: Wir stehen immer noch im Berliner Hauptbahnhof. „Der Zug muss resettet werden. Daher gehen jetzt alle Lichter aus und wir bitten Sie, während dieser Zeit nicht die Toilette zu benutzen“, informiert uns die Zugbegleiterin abermals. Mit einer knappen halben Stunde Verspätung fährt der Zug dann los. Später erfahren wir auf Nachfrage, dass die Bahn von dem „plötzlichen“ Kälteeinbruch (Stichwort Russenkälte) überrascht wurde und die Störungen daher rührten. Da kann man echt nur noch den Kopf schütteln. Nicht einmal das bringt mich aus der Ruhe. Bahnfahren macht echt gelassen.
Um kurz nach zwei Uhr in der Nacht erreichen wir Hamburg – mit einer knappen Stunde Verspätung. Und das ganz ohne „Personenschaden“ unterwegs. Blöd nur, dass sämtliche Anschlusszüge jetzt schon weg sind. Und noch blöder, dass ich in acht Stunden arbeiten muss.

Die Bahn: Dein Freund und Helfer


Auf einmal zeigt sich die Bahn von ihrer kulanten Seite: Wegen der ganzen Zwischenfälle bekomme ich eine Taxifahrt von Hamburg nach Eutin von der Bahn spendiert. Das sind immerhin 100 Kilometer für eine Strecke. Aber soll ja nicht mein Problem sein. Apropos Probleme: Von denen gibt es während der Fahrt glücklicherweise keine mehr. Wohlbehalten falle ich um 3.46 Uhr ins Bett. Endlich an der Matratze horchen. Keine Frage, eine aufregende Reise geht zu Ende. Bahnfahren ist eben wie Lottospielen. Mal schaun, ob ich beim nächsten Trip wieder so ein super Los ziehe.

Samstag, 1. Dezember 2012

Die glorreiche(n) Elf

Für Hunderttausende Hobbykicker ist es ein Highlight am Wochenende: Das Fußball-Spiel in ihrem Heimat-Verein. In den unterklassigen Ligen schnüren die Amateur-Fußballer Woche für Woche ihre Stollen-Stiefel und gehen auf Tore- und Punktejagd. Einer davon ist Lars Lichtenberg, 24, Lehramtsstudent aus dem südlichen Landkreis Hildesheim. Was treibt ihn an, sich bei Wind und Wetter jedes Wochenende auf dem grünen Rasen herumzutreiben? Der bloße sportliche Ehrgeiz ist es jedenfalls nicht.

Kampf und Krampf in unterster Spielklasse – na und!

Es wirkt wie die gute Miene zum bösen Spiel. Seelenruhig schleicht Lars Lichtenberg, 24, über den Fußballplatz. Aufrechter Gang, den Blick nach vorn gerichtet. Er lächelt. Es ist ein fröhliches Lächeln. Neben ihm gehen seine Mannschaftskollegen vom Fußball-Team TSV Warzen III. Sie wirken kaum minder schlecht gelaunt. Dabei wurden die Warzener soeben von MTV Banteln mit 0:7 vermöbelt. Eine fußballerische Offenbarung - in der 4. Kreisklasse Hildesheim! Tiefer geht nimmer. Es ist die unterste Spielklasse in Hildesheim und die 12. Liga von der Bundesliga an runtergerechnet. Andere würden sich dieses Niveau als Spieler gar nicht erst antun. Schon gar nicht, wenn man vom Gegner so auseinandergenommen wird wie die Warzener. Doch nicht so Lars. Er fiebert jedem Sonntagnachmittag mit großer Vorfreude entgegen. Dann steht meistens ein Punktspiel für Warzen III an.
Eine verschworene Truppe

Für Lars ist TSV Warzen III nicht bloß eine Fußballmannschaft. Es ist mehr. Das Team ist wie eine zweite Heimat für ihn geworden. „Wir sind eine super Truppe. Bei uns stimmt es in erster Linie auf der menschlichen Schiene“, berichtet der Lehramts-Student. „Nach Heimspielen grillen wir häufig zusammen und haben auch sonst eine Menge Spaß abseits des Rasens.“ Er lässt seinen Blick über die laubbedeckte Spielfläche in Banteln schweifen. Das Auswärtsspiel war die letzte Partie des Jahres. „Jetzt freue ich mich unheimlich auf unsere Weihnachtsfeier. Die wird erfahrungsgemäß immer sehr lustig. Das trifft auch auf unser Oktoberfest zu.“

Für den 24-Jährigen ist die intakte Gemeinschaft innerhalb der Mannschaft mindestens genauso wichtig wie das Sportliche. Und das lässt sich auch auf dem Rasen beobachten. Bei den Warzenern läuft und kämpft einer für den anderen. Sie feuern sich immer wieder gegenseitig an. Teaminterne Reibereien und Schuldzuweisungen gibt es ob des desaströsen Auftritts nicht. Beim Gegner trotz des souveränen Sieges erstaunlicherweise schon.  Deren Team schöpft das Wechselkontingent komplett aus und tauscht drei Spieler. Diesen Luxus kann sich Warzen nicht leisten. Auswechselspieler gibt es nicht. Hier muss jeder auf die Zähne beißen und die 90 Minuten irgendwie durchstehen. Einer für alle. Alle für einen.

Team droht Auflösung

Das Resultat: Es hagelt Niederlagen, teils herbe Klatschen. Die Warzener grüßen vom Tabellenkeller in der 4. Kreisklasse. Das alles macht Lars nichts aus. Das Team ist es ihm wert. „Ich bin froh, dass es nicht zweistellig wurde“, sagt Lars nach der Niederlage gegen Banteln. Er lächelt noch immer. 
Doch seine gute Laune könnte ihm bald abrupt vergehen: Die dritte Herrenmannschaft des TSV Warzen steht vor einer ungewissen Zukunft. „Uns droht die Auflösung, da wir oft die gerade erforderlichen elf Spieler beisammen haben. Zudem droht TSV Warzen II der Abstieg in die 4. Kreisklasse und zwei Mannschaften eines Vereins können nicht in derselben Klasse spielen“, so Lars. Wehmut klingt in seiner Stimme mit. Und so könnte die Partie gegen Banteln nicht nur die letzte Partie des Jahres gewesen sein. Womöglich war es sogar die letzte Begegnung von Warzen III überhaupt. Einen „Wechsel“ zur zweiten Mannschaft kann sich Lars nur als absolute Notlösung vorstellen. „Schwierige Entscheidung. Das Gemeinschaftsgefüge in der dritten Herrenmannschaft ist einzigartig. Bei einer Auflösung könnte ich mir unter Umständen vorstellen, für die zweiten Herren zu spielen. Aber wahrscheinlich würde ich den Verein verlassen.“ Dass er erneut in einem Team mit einem vergleichbaren Mannschaftscharakter wie dem von Warzen III spielen wird, daran glaubt auch Lars nicht ernsthaft.

„Das lässt sich aber auch nur schwer toppen“, sagt er. Plötzlich blickt er ernst drein. Er wirkt nachdenklich. Das fröhliche Lächeln ist aus seinem Gesicht gewichen.